Als eben das Telefon klingelte wollte das Lieschen erst gar
nicht dran gehen. Sie war nämlich im Stress. Berge von Stoffen türmten sich auf
dem Boden ihrer „Fabrik“. Fabrik nennt sie das Näh- und Bastelzimmer, weil ihr
diese Bezeichnung genau das Chaos erlaubt, das sie für kreative Maßnahmen braucht
und das sie in anderen Räumen stören würde. Lieschen hat nämlich morgen Abend
Klassentreffen und NICHTS anzuziehen. Garnichts. ÜBERHAUPT Garnichts. Nur drei
angefangene Kleider. Und noch ca. vier andere in ihrem Kopf. Wenigstens eins
wollte sie gerade fertig machen als das Telefon klingelte.
Als sie auf dem
Display sah, dass die Grete das Klingeln verursacht hat, ist sie natürlich dran
gegangen, hat aber sofort über ihre aussichtslose Lage gestöhnt. „Nix hab ich
anzuziehen. Ich kann da nicht hin gehen“ hat sie gesagt und die Grete wusste
sofort Bescheid. „Quatsch! Was auch immer es ist. Du gehst dahin!“ Das hatte
sie der Liese schon oft befohlen. Und wie immer fügte sie hinzu „Das
Tigerkleid. Nimm das. Das passt immer.“ „Diesmal nicht, Grete. Diesmal nicht.
Klassentreffen! Nur Frauen! Und die haben mich 35 Jahre nicht gesehen! Ich muss
einen 1A Eindruck machen! Ich kann KEINESFALLS das alte Kleid anziehen!“ „Klar
kannste! Machste ja eh zum Schluss, wenn es dir in letzter Sekunde dann doch
egal ist.“ Die Grete kennt das Lieschen gut. Einen Tag vor irgendeinem
Ereignis, zu dem sie eigentlich nicht hingehen will, macht sie sich jede Menge
Stress. Sie strickt und näht als ginge es um ihr Leben und wenn es dann soweit
ist geht sie entweder nicht hin oder zuppelt halt irgendetwas aus ihrem Schrank,
in dem sie sich wohl fühlt. „Ach Grete hast ja Recht! Wie immer. Was gibt’s eigentlich?
Warum rufst du an, du Gewohnheitstier, das normalerweise am Samstag anruft?“
Lieschen hatte es sich mittlerweile, nach einem kurzen Blick in den
Kleiderschrank, der ihr die Gewissheit gab, dass das Tigerkleid nicht zufällig
in der Wäsche war, im Sessel gemütlich gemacht und hörte nun Gretes Anliegen
zu. Ach was hat sie sich geschämt. Die Grete kam mit der Erinnerung an ein
echtes Problem. Sie erzählte noch einmal von ihrer Krebserkrankung, von das
Lieschen damals in der akuten Zeit gar nichts erfahren hat. Erst hinterher hat
die Grete ihr das erzählt. Diagnose und Krankenhausaufenthalt hat die Grete ihr
damals als Urlaub „verkauft“ und erst hinterher die Wahrheit berichtet. Lieschen hat erst
davon erfahren als „alles vorbei war“. Schwach war die Grete wohl noch, aber
geheilt, wie sie sagte. Richtig darüber sprechen wollte sie aber auch dann
nicht. Ist gut gegangen und nun ist es vorbei, hat sie gesagt und das Thema
gewechselt. Vielleicht war das gut so. Das Lieschen hätte sich natürlich ne Menge
Sorgen gemacht, wenn sie es vorher erfahren hätte und wer weiß, was sie alles
gefragt und gesagt hätte, wenn die Grete das Thema nicht gewechselt hätte.
Heute ist der Grete das ganze Thema wieder eingefallen, weil sie ein Video von einer
im OP tanzenden Frau gesehen hat. Immer wieder. Und jetzt wollte sie wissen,
was die Liese davon hält und von vorsichtshalber amputierten Brüsten, Vorsorgeuntersuchungen
und vor allem eben von dieser tanzenden Frau. Aber die Liese hat keine
eindeutige Meinung. Bisher hatte sie ja Glück und ihr ist eine Krebsdiagnose erspart geblieben. Gottseidank. Das heißt natürlich nicht, dass sie nie
Krebs hatte oder hat. Die Liese geht nämlich niemals zur Vorsorge. Da können
die Leute sagen, was sie wollen. Damit macht sie sich keinen Stress. Erst
neulich hat sie wieder diesen Schrieb von der Krankenkasse weggeschmissen, der
sie zur Krebsvorsorgeuntersuchung einlud. Sie will das nicht wissen. So was
macht sie nicht vorsorglich. Das kann die Grete natürlich nicht verstehen. Und
das wiederum versteht die Liese. Grete ist ja in einer ganz anderen Situation. Vielleicht
würde die Liese in ihrer Situation genauso handeln. Wer weiß.
Brüste würde sie niemals vorsichtshalber wegoperieren lassen, aber die tanzende Frau findet das Lieschen super. Sie selbst hat
das Video ja nicht gesehen, aber das was Grete ihr erzählte klingt klasse,
findet sie. Es ist möglich, dass im Tanzen gefühlte und ausgedrückte Freude das
Leid und seine Ursachen „vertreibt“. Klingt komisch. Ist aber vielleicht so.
Meint jedenfalls das Lieschen. Und die Grete ja auch. Die hat die Freude ja schon
allein beim Zugucken gespürt.
Vielleicht würden wir uns alle viel Leid ersparen, wenn wir
so aktiv wie diese im OP tanzende Frau die Freude in unsere Körper und unsere
Leben einladen würden und sie unabhängig von den Umständen einfach ausdrücken
würden. „Vielleicht wäre das die beste Vorsorge, Grete. Vielleicht sollten wir
alle mehr tanzen.“
Die beiden haben noch über dies und das gesprochen, über
vergangenes Leid und immer wieder über Freude und deren mögliche Kraft zur
Heilung bzw. zur Verhinderung von Krankheit. So nachdenklich der Anlass des
Anrufs war, so ausgelassen sind die beiden im weiteren Verlauf. Sie freuen
sich. Beide. Aneinander und am Leben. Kann sein, dass sie sich am Mittwoch am
Flussufer zum Tanzen treffen. Kann sein. Wenn sie den Mut dann noch haben. Sie
werden spätestens am Dienstag noch einmal deswegen telefonieren. Lieschen kann
ja auch beim Tanzen erzählen wie das Klassentreffen war und wie ihr Tigerkleid
angekommen ist. Denn das wird sie nun definitiv tragen. Weil's nämlich wurscht
ist, wie sie aussieht. Hauptsache sie hat Spaß. Das weiß sie nun wieder.
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Zwei Freundinnen, das leidige Thema was ziehe ich zum Klassentreffen an, wo jeder auftrumpft was er erreicht hat im Leben und wie toll alles ist. Man erkennt sich kaum wieder und hält den ehemals besten Freund für den alten Klassenlehrer, dann die Wende, Erinnerungen an eine Krankheit die Furcht einflösst und lähmt.....
AntwortenLöschenBrustkrebs - ich habe zwei Freundinnen daran verloren. Es war ein harter Kampf, der völlig chancenlos war.
Wie immer liegen Glück und Leid dicht beieinander und über Kleinigkeiten sollte man sich nicht aufregen. Aber wann sind es Kleinigkeiten?
Schönes WE wünscht Geli
Ja, da steckt wieder eine Menge drin.
AntwortenLöschenIch fang mal von hinten an, denn die Idee, am Flussufer tanzen zu gehen, gefällt mir. Das sollten die beiden Freundinnen mal machen. Befreit den Kopf bestimmt genauso von Alltagsgedanken wie Laufen, Singen,was weiß ich noch alles.
Und da bin ich schon beim nächsten Aspekt.
Es ist sicher richtig, aktiv an Probleme heranzugehen und das gilt eben auch für Krankheiten. Ob es nun tanzen sein muss, weiß ich nicht, da muss jeder seins finden. Wichtig ist wohl die positive Einstellung - nicht zur krankheit, sondern zum Leben. Kraft zur Heilung kommt sicher zum großen Teil aus einem selbst heraus.
Ich habe es bei Grete schon angemerkt: Für mich ist Gesundheit weitaus mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit. Klingt vielleicht blöd, aber ein vielleicht körperlich kranker Mensch kann gesünder sein als ein körperlich gesunder....
Dass Lieschen nicht zur Vorsorgeuntersuchung geht, na ja, ich kann es verstehen, dieses nicht wissen Wollen, aber das ist natürlich Verdrängung und ganz unterschwellig schlummert doch etwas.
Es ist passiv.
Ich mag diese Vorsorgegeschichten auch nicht, aber manchmal bleibt einem nichts anderes.
Und es ist erwiesen, das fast alle Krebsarten heilbar sind, wenn man sie rechtzeitig erkennt.
Aber auch diese Entscheidung muss jeder für sich selber treffen.
Und nun zum Anfang. Genauso habe ich es mir vorgestellt. Lieschen hat ein Näh- und Bastelzimmer.
Und welches Drama: Sie hat nichts anzuziehen für das Klassentreffen. Lach...dabei wage ich mal zu behaupten, dass Lieschen nur ein paar Tücher und Stoffe braucht, die sie um sich mit Geschick drapiert - sie würde den Vogel abschießen und einen 1A (wenn auch etwas skurrilen) Eindruck machen.
Nur frage ich mich, warum dieser 1A-Eindruck bei einem Klassentreffen so wichtig ist???
Egal, gut, dass Grete ihrer Freundin das Tigerkleid schmackhaft gemacht hat. Das passt doch astrein...
Lässt mich gerade ein wenig schmunzeln...
Gute Nacht und liebe Grüße
Enya.
Im letzten Jahr war ich auf einem Klassentreffen, hatte die meisten nach der Schule nicht mehr gesehen. Weißt du, was ich neben dem Austausch von ein paar Lebensgeschichten in Kurzform den ganzen Abend gemacht habe? Ich hab getanzt. Einfach nur getanzt. Und es war herrlich...
AntwortenLöschenWünsche dir von ganzem Herzen ein wunderbares Klassentreffen!
Liebe Grüße
Christiane