„Deshalb also hat die Grete den Anruf eben nicht angenommen.“
Lieschen hatte sich schon so etwas gedacht. Irgendwie hat sie vermutet, dass es
der Grete heute nicht so gut geht. Und weil sie ihren Ahnungen gerne nachgeht
und weil sie dachte, dass es der Grete vielleicht gut tun würde, mit irgendjemandem
zu reden an einem solch düsteren Tag wie dem heutigen, hat sie sie angerufen.
Allerdings hat sie nicht bis zum St. Nimmerleinstag klingeln lassen. Sie hat
sich gedacht, dass die Grete ja sieht, wer angerufen hat und wenn sie will,
wird sie schon zurückrufen. So ist sie, die Liese. Ein Zeichen geben, ja.
Belästigen, nein. Und im Grunde war es ja ganz richtig so, meint sie jetzt,
nachdem sie von den Kopfschmerzen, der Langeweile und den Tränen gelesen hat.
Wenn Tränen da sind müssen sie geweint werden. So ist das
doch. Zu ihrer Zeit und manchmal egal aus welchem Anlass. Das Lieschen kann so was
auch am besten alleine. Beim Weinen kann sie niemand anderen gebrauchen. Ihre
Tränen sind ja ihre und, hat ja kein anderer etwas mit zu tun. Oft weiß das
Lieschen auch gar nicht, warum sie weint. Oder worüber sie weint. Sie weint
einfach, wenn die Tränen „drücken“ und sie alleine ist. Das reinigt. Nicht nur,
weil es Wasser ist.
Solche Sendungen, wie die Grete sie heute gesehen hat sind
vermutlich genau für solche Reinigungen produziert worden, glaubt die Liese. Lieschen
hat diese Sendung vor vielen Jahren ein paarmal geguckt. Sie weiß eigentlich
nicht, ob sie heute noch ist wie sie sie in Erinnerung hat. Tut aber jetzt
einmal so, als wäre noch alles „beim Alten“. Menschen verschwanden aus den
Leben von Menschen. Julia Leischnik erfährt davon und reist um die halbe Welt,
um die Verschwundenen, die ja ebenfalls bereits seit vielen Jahren mit einem
Verlust zu tun haben, zu finden. Wer bei den Videobotschaften, die sie
wechselseitig vorführt, nicht schon schnieft ist hartgesotten und wer bei der
Reunion zum Schluss nicht Pippi in den Augen hat, hat wirklich nichts zu
weinen. Lieschen meint, dass das Traurige oder Berührende gar nicht so sehr das
Schicksal dieser fremden Menschen im Fernseher ist. Sie meint, dass diese
Geschichten nur eigene Geschichten antuppen und so im glücklichen Fall den
Tränentopf überlaufen lassen. Den einen spricht das Leid in Zusammenhang mit
dem Verlust eines geliebten oder gewohnten Menschen, bei einem anderen trifft
das Wiederfinden auf eigene Wünsche, die vielleicht mit dem Beenden von
Einsamkeit zu tun haben und wieder andere sehen bestimmte Gefühle in den
Protagonisten dargestellt, die sie kennen und vielleicht bei sich selbst vernachlässigt
haben.
Lieschen ist froh, dass die Grete geweint hat. Auch wenn sie
nicht weiß warum. Abnehmen könnte sie ihr ihre Gefühle, ihre Tränen und ihre
Einsamkeit ja sowieso nicht. Sie kann ihr für eine Zeit Gesellschaft sein, sie
kann ihr mit weitem Herzen ein offenes Ohr schenken und sie kann ihr z.B.
Kopfschmerztee bringen, wenn sie von den Schmerzen weiß. Was könnte sie mehr
tun? Das müsste Grete ihr sagen. Und dafür müsste sie ans Telefon gehen oder
von selbst anrufen. Oder?
Wenn die Grete selbst einen vermutlich noch lebenden
Menschen im Laufe ihres Lebens aus den Augen verloren hätte, dann könnte das
Lieschen suchen helfen und im Fall der Fälle Frau Leischnik informieren. Das
könnte sie tun. Wenn sie davon wüsste. Davon weiß sie aber nichts. So etwas hat Grete bisher nie erzählt.
Lieschen erinnert sich an die Abschlussfrage von Gretes Sonntagsbericht.
Ob die Stimmung wohl am Alleinsein liegt oder einfach am November? Genau weiß
die Liese das natürlich nicht. Natürlich ist die Dunkelheit am „hellichten“
Tage mühsam. Aber vielleicht liegt ein Wert in der Dunkelheit? Vielleicht ruft
sie uns auf, uns mit unseren dunkleren Seiten zu beschäftigen? Vielleicht
brauchen wir dazu sogar das Alleinsein? Vielleicht tun wir uns einen Gefallen,
wenn wir uns in solchen Monaten zurückziehen, Schmerzen aushalten und z.B. weinen?
Vielleicht heilt uns das und macht uns selbst heller. Heller als der November
selbst jemals werden kann. Vielleicht, so meint das Lieschen, ist der November
ein Geschenk, indem er uns manche Ablenkung und Außensonne vorenthält.
Kann sein, dass die Grete gar nicht so sehr durch Frau
Korters Gesellschaft sondern vielmehr durch das Weinen der Tränen und die
frische Luft schmerzfrei wurde. Möglich isses. Meint die Liese.
Grete und Lieschen als kostenloses E-Book - die ersten 50 Kapitel:
Hallo Brigitta,
AntwortenLöschenMänner reagieren wahrscheinlich weniger emotional. Ich reagiere meine depressiveren Stimmungen auf meine eigene Art und Weise ab. Hard Rock hören, aufs Fahrrad setzen oder Gartenarbeit. Unsere To do-Liste ist jedenfalls bei uns zu Hause so lang, dass dringende Sachen ständig zu erledigen sind.
Gruß Dieter
Novemberblues und Melancholie, könnte man die Stimmung nennen. Wie gut das Grete geweint hat, es befreit die Seele. Und der Spaziergang hat ihr gut getan.
AntwortenLöschenSchönen Abend
♥ lichst
Angelika
Liebe Brigitta,
AntwortenLöschendie beiden Posts - deiner und Gretes - haben mich emotional sehr berührt.
Ich habe schon bei Grete gescshrieben, dass ich heute auch geheult habe,
ganz ohnen Grund. Aber nach deinen Worten hier, muss es schon einen Grund gehabt haben.
Ich bin nun schon einige Jahre allein - habe kaum Kontakte. aber bislang hat es mir nichts ausgemacht - im Gegenteil ich mag diese Ruhe nach einem turbulenten Berufsleben. Daran kann es nicht gelegen haben.
Aber: Nach den Tränen ging es mir besser!
Einen guten Start in die neue Woche wünscht dir
Irmi
Mal wieder sehr nützliche Gedanken...
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Christiane
O ja, liebes Lieschen. Ich kann deinen Argumenten wunderbar folgen.
AntwortenLöschenDer November mag so wirklich ein Geschenk sein, weil er uns eben jene Räume und die Zeit zum Innehalten eröffnet. Wir nehmen uns doch kaum noch die Zeit dazu.
Ich denke auch, dass wir unbewusst z.B. solche Filme wählen, die die Tränen mal fließen lassen, weil es eben eigentlich ein Bedürfnis und heilsam ist.
Früher waren die Menschen gezwungen, in der dunklen Jahreszeit mit allem zurückzufahren, heute bietet sich doch äußerlich auch dann noch sehr viel an Betriebsamkeit und Ablenkung (ich denke nur an den Weihnachtsrummel), dass wir bewusst von allein gar nicht dazu kämen, uns mit den „dunklen Seiten“ zu befassen.
Solche Tage, wie Grete gerade einen erlebt hat, sind eigentlich ein Segen.
Unmut, Unlust, Trauer....konnten sich so ein wenig Bahn brechen.
Und das allein sein Können, das scheint für viele heute ein Problem. Wobei ich deutlich unterscheiden möchte zwischen allein und einsam.
Manchmal finde ich das Alleinsein wunderbar und fühle mich gar nicht einsam, denn ich bin ja mit mir zusammen und zwar so, wie ich es sonst nicht erlebe.
Gedanken, die mich sehr berühren.
Liebe Grüße
Enya