Die Inder verallgemeinern auch. Alle. Und die sprechen
Englisch ähnlich wie Gretes Herr Heinevetter. Das weiß das Lieschen genau.
Naja. Ziemlich genau. Also ganz genau genommen liegen ihre Indienreisen schon sehr
viele Jahre zurück. Tiefste Vergangenheit. Und auch Indien ist wohl
mittlerweile in seiner Zukunft angekommen. Über indische Gegenwart weiß sie
leider wenig.
Also hangelt sie sich am Erinnerungsseil tiefer in die Zeit
und sieht sich zwanzig Jahre jünger auf einer staubigen Straße in einem
indischen Bergdorf. Sie sitzt auf einem
Stuhl am Rande der einzigen Straße, die durchs Dorf führt. Der Taxifahrer hat
sie dort abgesetzt. Mitten in der Sonne 40 Grad. Er besorgt in der Autowerkstatt
des Ortes, einem winzigen garagenartigen Gebäude mit Wellblechdach, ein
wichtiges Ersatzteil, das sein altersschwaches Gefährt zum Weiterfahren
überreden soll. Der Einbau dauert. Und während der langen Wartezeit flanieren
die Dorfbewohnerinnen in einfachen, aber wunderschönen Saris mit ihren Männern
und Kindern an unserer Liese, die auf dem Stuhl sitzt und in der Sonne brät, in
langer Reihe vorbei. Immer wieder. Kein Wort. Nur Blicke. Erstaunte Blicke.
Verwunderung von Menschen, die in einem Bergdorf leben und selten, ganz selten
Nichtinder sehen. Hierhin hat sich wahrscheinlich noch kein englisches Wort verirrt.
Das war ihr erster Tag im fernen Land, in dem die Menschen miteinander
jede Menge Sprachen und Dialekte sprechen. Wortlose und wortreiche. Zur tatsächlichen
landstrichübergreifenden Verständigung untereinander brauchten und brauchen sie
Englisch. Lieschen liebt die Aussprache der dörflichen Inder von damals. Ein
Singsang, dem sie stundenlang zuhören konnte, ohne sich zu langweilen.
Nur wenige der Geschäftsleute, die sie auf ihrer ersten
Reise kennen lernte, hatten Visitenkarten. Und wenn, dann keine der Sorte
Edelbert. Damals galt auch dort, oder vielleicht gerade dort, das Sein noch
mehr als der Schein. Naja. Jedenfalls hatten sie keine Visitenkarten mit
irreführenden Jobbezeichnungen, die eher der Vertuschung als der
Bekanntmachung dienten.
„Brasser häs" hörte sie oft, wenn sie etwas in einem Lädchen
suchte, das es dort nicht gab. „Kamm tomoro“. Und oft stimmte es. Die
Ladenbesitzer, alle ohne weitere Titel unterschiedslos
miteinander verbrüdert, besorgten ihr oft zum nächsten Tag, was sie brauchte.
Lieschen weiß, dass sich die Zeiten geändert haben. Dort
vermutlich doppelt so schnell wie hier. Auch damals schon hat sie Inder
kennengelernt, die Herrn Heinevetter und Konsorten leicht Unterricht in echter
englischer Aussprache hätten geben können, weil sie es perfekt sprachen. Im
Ausland gelernt hatten und mit vielen anderen Fähigkeiten nach Hause brachten.
Ob der Herr Heinevetter ahnt, dass er vielleicht bei dem
Versuch, eine deutsche Hotline zu erreichen in irgendeiner indischen Vorstadt „ankommt“
und mit jemandem spricht, der heute perfekt Deutsch, aber bis vor gar nicht so langer
Zeit englisch genauso ausgesprochen hat wie er.
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