Da hat das Fräulein Grete Meier heute also zunächst einen
gebrauchten Tag erwischt. Das gibt es, denkt das Lieschen. Erst Recht im
November. Kalt, gebraucht und irgendwie unbrauchbar. Wohl dem, der sich, sobald
er das merkt wieder ins Bett legen und nach einiger Zeit neu starten kann. Oder
wohl dem, der sich am Morgen die Zeit nehmen kann, den fehlenden Kaffee zu
besorgen oder einfach nur wohl dem, der die Zeit hat, erst einmal durchzuatmen.
Hatte die Grete aber nicht. Sie musste los. Offensichtlich schnell los, damit
sie pünktlich zur Arbeit kam. Und was ist dann passiert? Das Lieschen lacht.
Dann ist sie bei aller Hektik doch nicht pünktlich gekommen. Stattdessen ist
sie in einen Stau geraten, die Grete. Zwei Stunden hat sie festgesessen,
schreibt sie.
Festgesessen? Klar, denkt die Liese, wenn das Ziel das Wichtigste
ist – und das ist es ja in der heutigen Zeit – dann werden aus Verschnaufpausen
Hindernisse. Wenn die Aufmerksamkeit auf der Ferne liegt, hat das Nahe keinen
Wert. Und doch könnte man vielleicht sagen, bei allen Anfangsschwierigkeiten,
die der Tag für die Grete bereithielt, hat er ihr eine lange Ruhephase,
die sie nicht zu verantworten hatte, dazu geschenkt. Oder nicht?
Im Ergebnis
kam sie zwei Stunden zu spät ins Büro. Zwei Stunden später als verlangt. Zwei
Stunden später als verabredet. Sie hat wohl Chaos angetroffen, aber die Welt
ist davon nicht unter gegangen. Offensichtlich.
Was wäre wohl gewesen, wenn die
Grete sich am Morgen, als sie merkte der Tag beginnt nicht gut für sie, die
Zeit genommen hätte, aus diesem hektischen Anfang einen geruhsamen zu machen.
Was wäre wohl gewesen, wenn sie sich ganz aktiv die zwei Stunden „Verspätung“,
von denen sie zugegebener Weise noch nichts wusste, genommen hätte. Für ein warmes, gemütliches Bad,
ein Tässchen Kaffee bei Herrn Heinevetter, ruhiges Anziehen und so weiter. Das
Ergebnis Verspätung wäre ja das gleiche gewesen, Gretes Stimmung aber vielleicht
nicht.
Hektik gepaart mit dem Blick in zukünftigen Ergebnissen
kostet ne Menge, meint die Liese. Nicht nur Feinstrumpfhosen oder Brandsalbe
samt Pflaster. Vielleicht auch Gesundheit. Könnte sein, meint sie.
Wie sich ihre Kollegen im Büro wohl geholfen hätten, wenn
sie gar nicht gekommen wäre an einem solchen Tag? Wären sie auch alleine auf
die Idee gekommen das Gerät aus der anderen Abteilung zu holen, anzuschließen
und zu benutzen? Hätte es jemanden gegeben, der dafür gesorgt hätte, dass die
Rechnungen, die ja „raus mussten“ „raus kamen“? Was wäre passiert, wenn die
Rechnungen erst am nächsten Tag das Licht der Welt erblickt hätten? Und wie würde
die Grete sich fühlen, wenn klar würde, dass es in der Firma auch ohne sie
ginge? Falls es ohne sie ginge.
Mal im Ernst, denkt das Lieschen, wie hätte die Grete den
Tag wohl verbracht, wenn sie keinen Plan gehabt hätte, den es abzuarbeiten galt?
Das Lieschen hat neulich wieder einmal eine Dokumentation im Fernsehen gesehen,
in der zwei 65jährige Herren in ihren Ruhestand begleitet wurden. Ein ganzes
Jahr lang. So sehr die beiden sich auf die freie Zeit freuten und so
zuversichtlich sie waren, dass alles super werden würde, so schwer taten sie
sich dann mit der vielen freien Zeit und der Abwesenheit einer Bedeutung durch
ihren Beruf. Beide vermissten die zeitlichen Vorgaben des Berufs und die Anforderungen
von außen, die kein Ansehen im Gepäck hatten. Beide hatten nicht gelernt, einen
Wert in sich zu sehen, sich selbst zu motivieren und ihren Tagen selbst Leben
einzuhauchen. Schon gar kein gemütliches Leben.
Vielleicht würde das der Grete auch so gehen? Grete hat ja
noch lange Zeit bis zur Rente, aber ein bisschen üben könnte sie ja jetzt
schon, denkt das Lieschen. Einfach jetzt schon mal ein bisschen selbst
bestimmen. Das wäre doch vielleicht ne prima Idee. Liese wird sie morgen mal fragen,
was sie wohl meint, wie es ihr dann gehen wird und was sie von der Idee hält.
Beim gemütlichen Kaffee im Café. Falls die Grete kommt und nicht von selber
entscheidet, ihrer Gesundheit zuliebe mal eine Ausnahme zu machen.
Uihuihuih,
denkt das Lieschen, das könnte ja auch passieren! Aber nach dem kurzen Schreck
lacht die Liese wieder. Falls die Grete nicht kommt und das das ist, was sie
wirklich will, dann ist das also das Beste, was uns passieren kann. Basta. Die
Grete ist ja ein freier Mensch. Und das Leben organisiert die Dinge schon
richtig. Immer, meint das Lieschen. Für alle Beteiligten. Auch wenn es auf den
ersten Blick nicht so aussieht.
Grete und Lieschen als kostenloses E-Book - die ersten 50 Kapitel:
Ja, was wäre gewesen,wenn...
AntwortenLöschenWir lassen es ja meist nicht darauf ankommen, dieses "Wenn" mal zu erkunden.
Lieschen, du hast hier eigentlich alles gesagt, ich habe nicht hinzuzufügen.
Vielleicht nur eines: Es ist immer bedenklich, wenn man sich über eine Sache, eine Aufgabe oder über die von außen gestellten Aufgaben definiert, die unser Leben bestimmen. Das kann als Mutter sein und wenn die Kinder aus dem Haus gehen, fällt man in ein Loch. Ein anderes Mal (und das sehr häufig) ist es eben der Beruf...wieder andere definieren sich über ihren Besitz, ihren Ehepartner usw.
Man steht leer, wenn dann etwas "abhanden" kommt oder nicht so ist wie gewohnt.
"Den Wert in sich sehen" nennst du es. Ja,das trifft es gut, vielleicht auch "Anerkennung" aus und durch sich selbst heraus gewinnen.
Ich denke, es ist die Balance, die Ausgewogenheit, mit der wir unser Leben gestalten sollten. Hierzu gehört eben auch ein öfteres Innehalten und ein in sich Hineinhören.
Und Ausnahmen sind immer gut.
Nur leider haben nicht alle hierfür das Verständnis wie Lieschen.
Lieben Gruß und gute Nacht.
Enya
war wieder richtig interessant zu lesen.
AntwortenLöschenJa - wir nehmen uns vielleicht manchmal wirklich zu wichtig. Die Welt geht nicht unter wenn wir mal ausbüchsen. Aber ehrlich gesagt konnte ich das auch nicht ;-)
Ich erinnere mich noch gut, wie ich mal mit demTaxi in die Arbeit gefahren bin, weil ich verschlafen hatte. Ich hatte einen Termin - und mir war die Situation furchtbar peinlich. Als ich dann ankam (um einige DM erleichtert damals) erfuhr ich, dass der Termin abgesagt worden war;-)
liebe Grüße von Heidi-Trollspecht