Nachdem das Lieschen in aller Ruhe in einem Miniräumchen der
nahegelegenen Schule ihre zwei Kreuzchen gemacht und später den Startschock
über die ersten Hochrechnungen bereits ein wenig verdaut hatte, rief endlich
die Grete an und berichtete von ihrem Samstag.
Lange hat das Lieschen ruhig zugehört. „Mhm – Och – Ach du
meine Güte“ war das einzige, was sie in unregelmäßigen Abständen einwarf.
Gelacht hat sie nicht. Auch die Grete nicht. Sie hat wahrscheinlich nicht mal
gelächelt. Lieschen hört Gretes Lächeln nämlich an der Klangfarbe ihrer Stimme.
Also sie würde es hören, wenn es vorkäme. Und es kam nicht vor. Auch nicht als
die Grete zum wiederholten Male sagte: „Natürlich musste ich das tun. Ich liebe
sie doch über alles“. Dem Lieschen sind solche Sätze unheimlich. Was das wohl
heißt, hat sie sich schon oft gefragt. Nicht nur im Zusammenhang mit Grete, die
ja bekanntermaßen zu Überanstrengungen wegen des Hintenanstellens der
eigenen Bedürfnisse zugunsten der, oft nicht einmal ausgesprochenen,
Bedürfnisse von anderen neigt.
Während Lieschen zuhörte, fragte sie sich zum wiederholten
Male, was das wohl sein mag. Diese ominöse Liebe, die Menschen dazu bringt, das
eigene Lachen und Lächeln zu verlieren. Die Liese bezweifelt, dass es möglich
ist, irgendwen oder irgendwas über alles
zu lieben. Auch über sich selbst?
Oft ist es wohl genau so, sinniert das Lieschen weiter, während die Grete in die
Beschreibung ihres WaschbügelFahrundBesuchsvormittags kurz ihre eigenen
Rückenschmerzen einwirft, die sich natürlich wieder eingestellt haben. Und ihr
fiel das alte Ehepaar ein, das sie eben vor dem Wahllokal gesehen hat. Die
Frau hangelte sich am Geländer die vielen Stufen herunter, während der Mann
langsam neben ihr herging und sie „anfeuerte“. Er hielt sie nicht. Er trug sie nicht.
Er war einfach da. Neben ihr. Und sie nutzte die Kraft und Fähigkeit, die sie
offensichtlich hatte. Unten angekommen, gab er ihr ihre Krücken, sie richtete
sich ein wenig auf und beide strahlten. „Siehste“ sagte er „hast du das auch
wieder geschafft.“
Lieschen ist jetzt noch froh, dass sie ihrem ersten Impuls
widerstanden hat, hinzulaufen und die Frau auf ihrem Weg zu stützen. Und doch
vermutet sie, dass sie, hätte man sie bei „ihrer unterlassenen Hilfeleistung“
beobachtet, genau dafür verurteilt worden wäre. Wie so oft schon.
In diesem Telefonat hat das Lieschen nicht mit der Grete
geschimpft. Sie hat sie aber auch nicht gelobt. Im Grunde ist sie bei ihren
Mhms, Ochs und dem AuchdumeineGüteausruf geblieben. Nur ganz zum Schluss des
Telefonats hat sie ihr geraten, sich selbst nicht zu vergessen. „Wenn du dich
im Leid der anderen verlierst, nützt das niemandem“ hat sie leise gesagt. Grete
hat das nicht sofort verstanden. Vielleicht war es auch einfach zu leise.
Vielleicht war er zu undeutlich. Dieser Ruf nach der Liebe und dem Ausdruck auch sich
selbst gegenüber. Den meinte das Lieschen und widerstand weiteren Erklärungen
und auch der Aussprache des Vorschlags, dass sie sich ja, während Grete auf der
Arbeit ist, um deren Bügelwäsche kümmern könnte.
Liebe, so meint das Lieschen, liebt alles oder nichts.
Lieschen weiß nicht, ob sie liebt. Manchmal glaubt sie: ja. Manchmal glaubt
sie, dass sie dazu nicht fähig ist. Jedenfalls meint sie, gelernt zu haben, dass
über alles unmöglich ist. Und falls doch gelebt, zu größerem Leid führt.
Die Grete hat versprochen, wenigstens früh ins Bett zu gehen
und so für genügend Schlaf zu sorgen. Von sich aus. Ohne dass Lieschen das „gefordert“
hätte. Hoffentlich hat sie es gemacht.
Sie selbst verfolgt noch ein bisschen die Ergebnisse der
Wahl und die Äußerungen der Beteiligten und Verantwortlichen. Sie ist gespannt
auf die kommenden Koalitionsverhandlungen. Sie ist gespannt, wer welche
Positionen behalten undoder aufgeben wird. Wer wird stark sein, bleiben oder
werden? Inmitten der Verhandlungen, die zu einer gemeinsamen Stärke führen
sollen. Wer braucht da eigentlich wen? Der Starke den Schwachen oder der
Schwache den Starken?
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Liebe Brigitta,
AntwortenLöschendeine letzte Frage ist eine gute Frage! Sie beinhaltet alle Wenn und Aber.
Aber sie wird uns auch zeigen, wer unbedingt zur Macht möchte - wenn es denn in - welcher Konstellation auch immer - eine Macht ist.
Und zu Frl. Grete: Sie sollte wirklich etwas mehr an sich denken. Gut, dass du da bist und manchmal (wenn auch ganz leise) zurechtweist.
Einen guten Start in die neue Woche wünscht
Irmi
Tja, mit dem Helfen ist das so ne Sache - wer hilft wem und warum und für wen ist was gut??? Manchmal ist Nichthelfen sogar die bessere Hilfe...
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Christiane
Ehrlich, ich zweifle auch, dass es möglich ist, jemanden „über alles zu lieben“.
AntwortenLöschenDas hieße für mich, Liebe einem Vergleich zu unterziehen und ich finde, das ist irgendwie merkwürdig. Ich liebe oder auch nicht.
Kann man denn sagen, hier liebe ich ein bisschen, da ein wenig mehr und dann dort eben über alles?
Jemanden oder etwas über alles lieben ist wie eine Forderung nach Besitz, aber gleichzeitig eine Art Selbstaufopferung, denn diese Liebe stünde ja über allem, was mich und mein Leben tangiert. Wie mag sich derjenige fühlen, dem ich so eine Liebe „aufbürde“? Sorry für den Ausdruck, aber so käme es bei mir an. Ich würde mich dann immer in der Verantwortung fühlen.
Ja, Liebe sollte nicht fordern, sie ist da. So gesehen kann ich Gretes Hilfsbereitschaft schon verstehen, auch, dass sie für den Moment ihre Bedürfnisse hinten an stellt.
Aber das Motiv kann nicht eine bedingungslose, über allem stehende Liebe sein, sondern vielmehr das menschliche Gefühl helfen zu wollen.
Ich denke aber, dass man rasch so einen Satz sagt, um vor sich selbst vielleicht ein Handeln zu begründen – im Nachhinein – das eben spontan erfolgt ist.
Grete wird sicher nachdenken, wie sie es weiter handhabt. Erste Schritte hat sie ja schon unternommen, indem sie Nachbarschaftshilfe organisiert hat.
Ein zweiter interessanter Punkt, den Lieschen hier anspricht, ist die Frage, ob die Schwachen die Starken brauchen und/oder umgekehrt.
Das Beispiel mit dem Mann, der seiner Frau zur Seite stand, ist wieder exzellent gewählt.
Wie würde sie sich letztlich fühlen, wenn er ihr immer alles abnähme? Sicher schwach, nahezu wertlos und nicht motiviert, selbst etwas aus sich heraus zu schaffen.
Oft erlebt man das bei Eltern, die sich ihren Kindern überstülpen, ihnen alles abnehmen.
Oder auch bei Behinderten, wo Hilfe zuweilen sehr unüberlegt erfolgt.
Auch hier gilt: Wahrnehmen, hinschauen, aber nicht sofort alles abnehmen.
Im Grunde scheint es mit oft so, dass die scheinbar Starken die Schwachen brauchen, um sich ständig ihrer eigenen Stärke zu versichern. Das hat auch etwas mit Selbstwertgefühl zu tun.
Ich finde es richtig, dass Lieschen weder mit Grete geschimpft noch ihr irgendwelche Direktiven gegeben hat.
Einfach mal zuhören und ab und an mit leisen Tönen intervenieren....Grete wird es selber merken, wo ihre Grenzen sind. Hoffe ich doch.
Haben mal wieder sehr zum Nachdenken angeregt, diese Gedanken über Helfen, Liebe, Selbstaufgabe...
Lieben Gruß
Enya
Die Wahl ist gelaufen, die Bürger haben entschieden und scheinbar gefällt ihnen die Regierung....
AntwortenLöschenWas für eine zauberhafte Geschichte von den beiden Leuten. Es hat immer alles zwei Seiten und manchmal muss man ein wenig darüber nachdenken und nicht vorschnell sein. Richtig philosophisch da nehme ich was von mit. LG Geli