Lieschens Antwort auf Fräulein Grete Meiers Post Nr. 46 ---> guckst du hier
Während des Lesens von Gretes Tagesbericht wird das Lieschen
immer blasser und glaubt von Zeile zu Zeile mehr, dass es in ihrem Rücken
ebenfalls zieht. Stark zieht. Sehr stark zieht. Nicht so schlimm wie bei der
Grete, aber das könnte noch schlimmer werden. So ist die Liese nämlich. Erzähl
ihr von einer körperlichen Krankheit und sie bekommt sie. Also nicht wirklich.
Aber beinahe. Also so schlimm, dass sie als Helferin im Grunde ausfällt.
Wie
gut dass die Grete den Herrn Heinevetter mit seinem Späherblick und den neuen
Nachbarn hatte. Die Liese wäre ihr, wie gesagt, keine Hilfe gewesen. Gut,
natürlich hätte sie sie stützen können und selbst in ihrem hypochondrischen
Zustand hätte sie zur Apotheke laufen können, aber wehe, ihr wäre dort ein
Notfall begegnet und hätte ihr in allen Einzelheiten sein körperliches Problem
geschildert. Vielleicht wäre sie gar nicht mehr zur Grete zurückgekommen.
Die Liese selbst würde natürlich niemals von Hypochondrie in
ihrem Fall sprechen. Sie sagt, sie fühlt extrem stark mit dem Leidenden, der
berichtet, was er hat. Die Menschen erzählen nämlich am liebsten was sie HABEN.
Auch den Ärzten erzählen sie heutzutage was sie haben. Das hätte ein Arzt aus
früherer Zeit gar nicht hören wollen. Der fragte seine Patienten „was fehlt
ihnen?“ und war damit, wie die Liese meint, auf einer guten Spur. Wäre damals
jemand zu ihm gekommen und hätte gesagt „hallo, ich habe Schmerzen, Hexenschuss
heißen die“ hätte er vielleicht gelächelt und gesagt „dann ist es also
Beweglichkeit die fehlt“.
So ein Arzt aus den Geschichtsbüchern, in denen das Lieschen
gerne liest, hätte vielleicht noch Zusammenhänge erahnt zwischen der Psyche und
dem Körper. Der hätte vielleicht auch ein Schmerzmedikament für den ersten
Moment gegeben, aber die rigorose Benennung nach Krankheitskatalog hätte er
sich vielleicht verkniffen oder noch gar nicht gekannt. Solche Sachen hat die
Liese jedenfalls schon manches Mal gelesen. Und sie stellt sich vor, dass
dieser Arzt aus alter Zeit, in der es noch Zeit für Patienten gab, vielleicht
mit dem Menschen, der offensichtlich problembeladen in seine Praxis gekommen
war, ein wenig geredet hätte. Über Beweglichkeit im Allgemeinen und Besonderen.
Über die Umstände zu Hause. Über Sorgen, die der Patient möglicherweise hat. Im
Falle des unteren Rückens hätte er vielleicht in Richtung materieller Sorgen
gefragt und vermutet, dass es dem Menschen auch auf diesem Gebiet an
Beweglichkeit fehlen könnte. Kurzum. Er hätte sich Zeit genommen, gute Fragen
gestellt, dem Patienten die Möglichkeit gegeben zu Erkenntnissen zu kommen und
dann hätte er sich vielleicht die Wirbelsäule ohne Geräte, aber mit Kennerblick
angesehen und ein bisschen Hand angelegt. Zur Unterstützung, so träumt die Liese
weiter, hätte er dann wohl ein paar Kräuter gemischt, jemanden gerufen, der den
Patienten nach Hause begleitet, diesem ein paar Anweisungen mit auf den Weg gegeben
und hätte sich ziemlich sicher sein können, dass er diesen im Moment leidenden
Mitmenschen schon in ein paar Tagen quietschvergnügt auf dem Marktplatz sehen
wird.
Mag sein, denkt die Liese nach diesem Traum, an den sie so
gerne glauben möchte, dass es das doch niemals gab und es immer schon wie heute
war. Hexenschuss aha. Spritze. Orthopäde. Kommt es häufig vor, Operation. Der Nächste bitte.
Lieschen weiß ja an sich, dass sie Gretes Hexenschuss nicht
hat und sie ahnt auch, dass der Arzt morgen nicht besonders viel Zeit für sie
erübrigen kann. Also macht das Lieschen jetzt das, was sie kann. Sie wird aufstehen, zum Telefon gehen, die Grete anrufen und sie wird all die Fragen stellen, die der
antike Arzt ihrer Fantasie gestellt hätte. Beginnen wird sie mit "Ach, was fehlt dir denn?" Und dann wird sie der Grete zuhören. Auch
wenn die erst mal nur stöhnt. Sie wird warten. Zeit hat sie ja. Vielleicht wird ihr das helfen. Wer weiß. Möglich isses.
Ach liebe Brigitta,
AntwortenLöscheneinen solchen Arzt gibt es nicht mehr. Hat es ihn denn wirklich mal gegeben? Heute geht alles wie am Fließband. Maximal 3 Minuten pro Patient. Hoffentlich geht es unserer lieben Grete morgen wieder besser. Sicherlich hat du ihr mit deinem Telefonat wieder Mut gemacht.
Einen schönen Abend wünscht Dir
Irmi
Ja, liebe Irmi, 3 Minuten pro Patient! Da wundert man sich nicht mehr, dass die Krankheiten bestenfalls noch verwaltet werden können.
Löschendanke dir wieder fürs Lesen!
lieben Gruß
Brigitta
Was mir fehlt? Bei Rückenschmerzen würde ich nie Beweglichkeit antworten. - Klasse!!!
AntwortenLöschenIch habe bei einem tollen Arzt früher gearbeitet und meine neue Ärztin hat sich wirklich viel Zeit genommen, mich auf den Kopf gestellt und x Fragen gestellt, die mit meinem akuten Problem oberflächlich gesehen gar nichts zu tun haben. Also, es gibt sie noch, die Ärzte zu denen man vertrauen fassen kann - aber das schnelle weiterüberweisen zum Orthopäden kann ich bestätigen...
liebe Grüße und allen mit Rücken und sonstigem: Gute Besserung
OH ... das ist eine gute Nachricht! Eine Ärztin, die Fragen stellt und sich offensichtlich ein bisschen Zeit nimmt ...!
LöschenDANKE für diese Meldung! :-)))
lieben Gruß
Brigitta
O Lieschen! Wie wunderbar du den Bogen spannst von Gretes Problem hin zu den uns alle angehenden Problemen heutzutage!
AntwortenLöschenDer Mensch wird nicht mehr als Ganzes gesehen, als ein Wesen mit Psyche, Körper, Umfeld, Lebensbedingungen, sondern reduziert auf ein "Ding", das aus teilen zusammengesetzt ist.
Zeit ist in der Tat ein Mangel bei den Ärzten und ich denke, viele würden es gern anders handhaben. Aber auch sie sind eingebunden in einen Apparat der Bürokratie. Meine Tochter (Ärztin) leidet da sehr drunter.
Manchmal findet man sie noch, diese Ärzte, die ein bisschen so sind, wie in Lieschens Traum. Aber da muss man schon suchen - und die zeit hat man ja oft nicht....
Vor allem aber ist Lieschen einfühlsam und sie weiß auch einzuschätzen, dass sie in diesem falle Grete gar nicht so gut unmittelbar hätte helfen können.
So tut sie gut daran, mit Grete zu reden und ihr die richtigen Fragen zu stellen.
Das allein hilft oft mehr als jede Medizin (zumindest auf lange Sicht hin gesehen). Ich denke, Grete sollte schon zum Nachdenken kommen, ob da nicht im Hintergrund ein kleines Problem liegt...
Wieder super!
lg
Enya
Danke! Danke! Enya ... deine Kommentare sind wirklich wunderbar. Du hast wirklich eine unnachahmliche Art wirklich "IN die Texte reinzulesen" ... Doll!
AntwortenLöschenJa. Mir ist klar, dass die Ärzte auch vor (fast) unlösbaren Problemen stehen, die vom "System" verursacht sind.
Und ich beneide keinen einzigen von ihnen. Deine Tochter hat mein Mitgefühl! Das ist bestimmt furchtbar, wenn man den Menschen, die sich vertrauensvoll an einen wenden, nicht so helfen kann wie man könnte und wollte.
Herzlichen Dank dir
und lieben Gruß!
Brigitta
Da muss ich der Liese mal wieder voll zustimmen: die Suche nach dem Fehlenden bleibt immer mehr auf der Strecke, auf der der Mensch einfach zu funktionieren hat - systemkonform sozusagen.
AntwortenLöschenÜber deinen Kommentar zu "slowing down" hab ich mich übrigens ganz besonders gefreut!
Ganz liebe Grüße
Christiane