Wie mag die Mutter mit dem Mädchen sprechen, wenn sie sie
auf der Polizeiwache abholt? Das Lieschen ist ganz konzentriert auf diese und
ähnliche Fragen rund um dieses junge Ding, dem die Welt doch noch offen stehen sollte.
Fast noch ein Kind. Sicher noch nicht erwachsen. Über Gretes Erlebnisse vom
Samstag ist das Lieschen auch bestürzt - der Bericht eines friedlichen
geselligen Samstags hätte ja anders geklungen als das, was Lieschen eben lesen
musste - aber so richtig nachdenklich machen sie ihre Vermutungen über dieses
Mädchen.
Wie die sich wohl auf der Wache gefühlt hat? Ob sie dieses
Umfeld längst gewöhnt ist? Grete hat ja berichtet, dass sie bereits polizeibekannt war. Lieschen wüsste zu gerne, was in diesem jungen Menschen
vorgegangen ist. Auf frischer Tat
ertappt zu werden ist ja wahrscheinlich kein Pappenstiel. Oder vielleicht doch?
Stumpft die Wiederholung ab? Was mag sie gefühlt haben, diese junge Fastfrau? Gelogen
hat sie, schreibt die Grete. Natürlich, denkt das Lieschen. Wer in der Lage
wäre, offen zuzugeben, was er tat, wäre vermutlich nicht gleichzeitig in der
Lage, andere Menschen zu bestehlen. Oder doch? Kennt sie eigenen Besitz überhaupt? Weiß
sie, dass „mein“ und „dein“ zwei Paar Schuhe sind? Oder hat sie früh gelernt,
dass „ihre“ Dinge Familien- bzw. Gemeineigentum sind und Grenzen nicht
existieren? Hat man IHR gelassen, was IHR gehörte?
Was mag sie in der Familie
gehört haben über die „Welt da draußen“? Geht es gerecht zu in der Welt? Was
glaubten die Eltern des Mädchens? Mal angenommen, sie hätte tagein, tagaus
gehört, dass ALLE ANDEREN unrechtmäßig zu viel besäßen, mal angenommen, dass sie
gelernt hätte, dass sie und ihre Familie WEGEN der Anderen, wegen der ungerechten
Verteilung zu wenig besäßen, wäre es da nicht verständlich, dass sie
Gelegenheiten beim Schopfe packt, dieses „Unrecht“ zu korrigieren?
Oder müsste sie Mitgefühl haben? Mitgefühl mit der alten
Frau, die Gretes Tante ist und vielleicht auch nur eine kleine Rente hat?
Müsste sich das Mädchen in die Frau, die so ungeschickt in ihrer Handtasche
kramt, dass ein Diebstahl ein Leichtes ist, hineinversetzen? Hineinversetzen
können? Muss jemand die Gefühle anderer respektieren? Ja? Auch dann, wenn seine
eigenen vielleicht niemals respektiert wurden? Ja? Wie, um Himmelswillen, soll
ein Kind, dessen Gefühle vom Tisch gewischt werden, im schlimmsten Fall mit
Füßen getreten werden und sich so fast von selbst abstellen, denn respektvollen
Umgang mit Gefühlen lernen? Das ist doch unmöglich, denkt das Lieschen und
meint damit im Moment nicht die Handlung des Mädchens, sondern die Möglichkeit
dieses speziellen Lernens.
Was mag sie selbst noch fühlen? Überhaupt und vor oder
während eines Diebstahls? Vielleicht nichts. Ist es dann nicht verständlich,
dass es ihr vielleicht auch unmöglich ist, Gefühle, gleich welcher Art, in
dieser alten Frau mit der Handtasche auch nur zu vermuten oder gar MITzufühlen?
Lieschen will hier keine Straftat verteidigen. Beileibe
nicht. Das läge ihr fern. Sie findet die meisten Gesetze für ein soziales
Zusammenleben wichtig und natürlich auch notwendig, dass sie gegenüber
Gesetzesbrechern verteidigt werden. Und doch, hat sie Mitgefühl mit diesem
Mädchen, das entgegen aller vorangegangenen Überlegungen vielleicht auch nur
auf der Suche nach Aufmerksamkeit ist. Es ist möglich, denkt die Liese, dass
dieses Kind – jetzt nennt sie sie doch Kind – einfach nur beachtet werden will.
Ist es nicht so, dass wenn das Defizit an „Gesehenwerden“ sehr groß ist, der „Nichtbemerkte“
auch über Schelte, Bestrafung und Verachtung froh ist? Ist in einem solchen
Fall nicht auch die negative Beschäftigung für den „Hungernden“ Nahrung? Nicht
wohlschmeckend aber eben Nahrung?
Lieschen kommt zu ihren ursprünglichen Fragen zurück. Welche
Art der Behandlung „blüht“ der Täterin? Von den Polizisten, die vielleicht
Väter von Töchtern ihres Alters sind und von der eigenen Mutter, die diese
Situation - und wer weiß was noch alles - offensichtlich schon einige Male erlebt hat?
Lauter Fragen, die das Lieschen natürlich nicht klären kann ohne
dabei gewesen zu sein und ohne mit ihr gesprochen zu haben. Und vermutlich
würde auch sprechen im ersten Moment nichts nützen. Spräche die Liese auf das
Kind ein, verstärkte sich der Widerstand vermutlich und Fragen stießen wohl auch
nur nach Zeiten „unendlicher“ Geduld auf eine irgendwie geartete Wahrheit.
Weil eine theoretische Lösung unmöglich ist und das Lieschen
praktisch in diesem Fall nichts ausrichten kann stoppt sie nun bewusst ihre
Gedanken daran, nimmt sich vor, in Zukunft Augen und Herz noch ein wenig
geöffneter zu halten als sowieso schon und wendet sich in ihrem Inneren noch
kurz Grete und ihrer Tante zu, denn natürlich hat sie auch für diese beiden
viel Verständnis.
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Ach Lieschen, das sind wieder Fragen, die tief gehen und die wir alle uns nicht genug stellen können.
AntwortenLöschenBei mir in der Grundschule ist das Problem noch nicht so akut, aber da ich auch später den Kontakt halte, sehe ich, was so abgeht. Auch in meiner Jugendsozialarbeit war ich öfter mit solchem Geschehen konfrontiert.
In den seltensten Fällen, kommen die Jugendlichen zu derartigen Aktionen aus dem Wunsch heraus, wirklich etwas zu brauchen, haben zu wollen.
Sehr oft ist es der Gruppendruck, der sie dahinführt. Es gibt regelrechte Mutproben, um in solch einer Gruppe bestehen zu können.
Nun kann man sich fragen, warum junge Menschen sich solchen Gruppen anschließen.
Du, liebes Lieschen, hast in deinen Fragen die Antworten eigentlich schon gegeben.
Ja, es fehlt an Respekt. Ich erlebe es immer wieder, dass Kinder sich etwas „ausleihen“, ohne zu fragen – sind ja nur Kleinigkeiten. Bohrt man nach, erfährt man, dass es im Elternhaus genauso zugeht. Mütter und Väter kramen im Ranzen, wühlen in Schubladen, schmeißen weg, was sie als wertlos erachten, ohne das Kind zu fragen.
Wie soll es da Respekt vor fremdem Eigentum lernen?
Ein anderes Problem ist in der Tat die mangelnde Anerkennung oder auch die entsprechende Aufmerksamkeit. Es gibt zu viele „blinde Fenster“ und Eltern wissen oft schon sehr früh nicht mehr, was ihre Kinder den Tag über so machen. Es fehlt an echter Auseinandersetzung und Kommunikation, auch an Wertschätzung.
Ist es da nicht logisch, dass Jugendliche dies anderswo holen?
Mit der Zeit, wenn diese kleinen Diebstähle gelingen, stumpft man wirklich ab oder verfällt in eine gewisse Euphorie. Der andere, der Geschädigte, wird hier wirklich nicht mehr wahrgenommen in seinem Empfinden.
Kinder können sich sowieso nur wirklich in einen anderen Menschen hineinversetzen, d.h., seine Perspektive einnehmen, wenn sie etwas 8/9 Jahre alt sind.
Wenn da nicht angesetzt wird und man den Kindern nicht das Gefühl gibt, sich ehrlich in sie hineinzuversetzen, dann muss das Erlangen einer gewissen Empathie scheitern.
Ganz wichtig finde ich deinen am Ende angeführten Aspekt: Augen und Ohren auf!
Daran krankt es doch in unserer Gesellschaft.
Man schreit und urteilt, wenn das „Kind in den Brunnen gefallen“ ist.
Man sollte sich wirklich die Frage stellen, inwieweit man seine Mitmenschen noch wirklich wahrnimmt.
Und ja: Konfrontiert man die Jugendlichen mit ihren Problemen, dann machen sie oft dicht. Es scheint zuweilen, als tangiere sie das alles nicht.
Sie haben nicht gelernt, ein „institutionalisiertes Gewissen“ zu entwickeln.
Wir müssen uns fragen, ob wir die Werte und Normen, die wir für uns angewendet wissen wollen nicht nur unseren Jugendlichen übermitteln, sondern ob wir sie auch in gleichem Umfang ihnen zugestehen.
Hat mir sehr gefallen, deine vertiefte Auseinandersetzung.
Lieben Gruß
Enya
Ich habe kein wirkliches Mitleid oder Verständnis. Vielleicht hatte das Mädchen einfach Langeweile. Eine Handtasche zu klauen ist für mich hochkriminell, da gibt es keine Entschuldigung. Man muss es lernen, dass das Leben kein Wunschkonzert ist und für viele Dinge muss man hart arbeiten. Sorry, wenn ich so rigros bin. Als Schöffin habe ich da schon zu viel gesehen.
AntwortenLöschenStrafe bekommt sie vermutlich keine, Hausverbot wenn es in Geschäften passiert, ansonsten ist das alles sehr lasch. Ich bin natürlich keine Fachfrau, es ist nur meine Meinung die hart klingt. Mit 14 Jahren konnte ich mir vermutlich noch weniger kaufen als die Jugendlichen heute, auch Fastfood lag nicht drin, täte manchem auch gut.
Aber ich finde es trotzdem gut sie ausführliche Gedanken darüber zu machen und das für und wider gegeneinander auszuloten.
Geli
PS ich habe es mir jetzt abgespeichert lach, aber vermutlich klappt es auch so