„Gerechtigkeit, Grete“ hat das Lieschen gestern beim Kaffee
immer wieder zu ihrer lädierten Freundin gesagt. „Gerechtigkeit gibt’s nicht.
Nicht vor Gericht und vielleicht auch nicht im Leben“. Aber weil die Grete
darauf bestand, dass man alles tun müsste, damit es sie gäbe, die Liese nicht
von ihrer Meinung abwich und die jungen Männer vom Nebentisch zufällig Anwälte
waren, hatten sie neben dem üblichen Gelächter und dem gewohnten Frohsinn
gestern auch ein bisschen ernstere Gespräche.
Aber der Reihe nach. Gestern war es die Grete, die ein wenig
später am reservierten Cafétisch eintraf als das Lieschen. Sie hatte in ihrem
Übermut Fahrradstunts getestet, die wohl ursprünglich für jüngere Menschen erfunden
wurden. Aber wie sie so ist, hat sie sich geschüttelt, den Spaß am Leben nicht
verloren und ist weitergefahren. Wohl ein bisschen langsamer und vielleicht
sogar ein wenig vorsichtiger. Jedenfalls kam sie mit Verspätung und wollte
dafür und für den kleinen Unfall die Schuld auf sich nehmen.
Da war sie bei dem
katholischen Lieschen an der falschen Adresse. Die findet ja, es gibt keine
Schuld. Oder wenn es sie doch gibt, dann sollte man sie nicht so nennen. Oder
wenigstens den erniedrigenden Beigeschmack aus dem Wort filtrieren. „Nenn´ es
Verantwortung und nimm die.“ sagte sie. „Ne“ sagte die Grete, lachte und
betonte, dass SIE ja kein Problem mit diesem Wort habe. Recht hat sie, dachte
die Liese und lachte auch. Aber damit war das Thema für den gestrigen
Nachmittag nur kurz unterbrochen.
Als die Grete sich einige Zitronenrollen später über das
Mannigurteil aufregte und immer wieder nach Gerechtigkeit rief, war es nicht
nur die Liese, die sie stoppte. Einer der jungen Herren vom Nachbartisch, der,
der sich vorher am deutlichsten über das Gelächter am reservierten Damentisch
mokiert hatte, kam bei dem Thema offensichtlich in sein Element. „Wenn Sie die
Politik in dem Fall mal außen vor lassen, dann ist das Urteil ok.“ „Wieeeeeeee?
Ok?“ Die Grete sprang fast wie von der Tarantel gestochen auf. Lieschen weiß
nicht, ob es an den Worten des Jünglings lag oder an der Tatsache, dass er sich
ins Gespräch der nicht mehr ganz so jungen Damen einzumischen drohte. „Nach
Aktenlage ok. Nach dem Gesetz ok. Nur darum geht es“.
Da hättet ihr mal die
Grete sehen sollen mit ihrer Schramme im Gesicht, das sich nun insgesamt noch
rötete und ihrem mittlerweile fuchtelnden Arm. „Wollen Sie mir sagen, Sie
Grünschnabel, Sie hätten an der Anklage mitgewirkt, wenn es möglich gewesen
wäre???“ „Nein hätte ich nicht“ „Gottseidank!“ „Aber seien Sie mal nicht zu
früh zufrieden. Ich bin kein Staatsanwalt. Ich bin Rechtsanwalt und ich habe
schon Menschen verteidigt, die des Mordes angeklagt waren“.
Mittlerweile saß
die Grete wieder. Das war auch gut so. Denn es ging weiter. „Es waren bisher drei
verschiedene Fälle. Alle freigesprochen.“ „Ja, wenn sie es nicht waren, ist das
ja auch richtig so“ klammert sich die Grete an ihre Gerechtigkeitshoffnung. „Nenene“
triumphiert der junge Mann von nebenan. „Getan haben sie es wohl alle drei.
Vermute ich. Weiß ich natürlich nicht sicher. Will ich auch gar nicht wissen.“
An dieser Stelle bestellte das Lieschen den grünen Tee für ihre Freundin. Nötig
war er. Die Schramme im Gesicht hob sich kaum noch von der übrigen
Gesichtsfarbe ab.
„Meine Aufgabe ist es, so oder so, den Angeklagten zu
verteidigen. Im Prinzip nach Aktenlage. Wenn die Beweise nicht reichen wird er
freigesprochen. Fertig. Wenn die Beweise reichen, dann nicht.“ Grete stürzte
den Tee in einem Rutsch, murmelte etwas das wie „dann laufen die Mörder also
frei herum“ klang und Lieschen bekam ein bisschen Angst um Gretes Augäpfel, die aus
den Augen zu fallen drohten. Als der junge Mann begann, detaillierter aus dem
Nähkästchen des Gerichts zu plaudern, drehte sich die Grete einfach weg.
In dem Moment, in dem sie dem Lieschen ins Ohr flüsterte „ach
hol ihn doch der Teufel mit all seinen Aktenlagenkollegen“ gab es diesen Schrei
vom Nachbartisch. Angeklagt war eine Riesenbiene. Die Tat war wohl ein Stich in
dessen Folge ein Arm abzufallen drohte und ob sie später vor Gericht von einem „guten“
Anwalt vertreten werden wird oder nicht, wissen weder die Grete noch das
Lieschen.
Die haben sich nämlich, nachdem sie das Thema vom Tisch
gewischt und die Anwaltrettungsaktion anderen Gästen überlassen hatten, noch
einige Zeit prima miteinander vergnügt. Zum Problemewälzen ist so ein Mittwoch ja nun wirklich
nicht gedacht.
Es ist einfach herrlich beide Seiten zu lesen, die Sichtweise zu erkennen und überhaupt. Ich liebe eure Geschichten und warte täglich darauf.
AntwortenLöschenMit einem ganz lieben Gruß Geli
Lieschen, jetzt habe ich herzlich gelacht. Kann mir vorstllen, wie du alles versucht hast, die Grete wieder runterzuholen. Stelle mir das angerötete Gesicht vor.
AntwortenLöschenIh bin so froh, dass ich bei euch gelandet bin. Die Geschichten sind echt Klasse. Ich glaube, ich werde süchtig danach.
Liebe Grüße schickt Dir
Irmi
Tja, die Frage nach Schuld und Aktenlage. Das sind so Sachen, die ungeheuer schwer greifbar sind.
AntwortenLöschenNoch schwerer wir d es bei der Gerechtigkeit.
Es gibt keine absolute Gerechtigkeit, da sich das Empfinden dafür immer an bestimmten Maßstäben orientiert.. So ist es auch sicher individuell unterschiedlich, was man als gerecht oder ungerecht empfindet. Eine absolute Gerechtigkeit könnte sogar ungerecht erscheinen., wenn die Umstände sehr verschieden sind. Im Pluralismus gilt Gleichberechtigung, aber eben keine Gleichheit. So gesehen ist auch Gerechtigkeit immer relativ.
Natürlich ist es sehr schwer, gerade vor Gericht zu differenzieren. Es müssen halt objektive Maßstäbe gelten, schon um der Willkür vorzubeugen. Und dennoch wird jeder Fall gesondert behandelt. Oft wird eben nach Aktenlage entschieden, keine weiteren Sachverhaltsermittlungen durchgeführt. Das mutet zweifelhaft an.
Was die Schuld angeht, so kann ich Lieschen zustimmen. Dem Begriff haftet ja meist etwas religiöses an und in diesem Sinne wären wir alle schuldig, Sünder.
Damit kann ich so gar nichts anfangen. Schuld kann eigentlich nur entstehen durch falsches handeln, durch Versäumnisse – ob nun bewusst oder gar nach- oder fahrlässig. So gesehen passt der begriff der Verantwortung sehr gut. Komme ich meiner Verantwortung nicht nach, mache ich mich schuldig. Oder so halt....Ist schwierig. Der Begriff der Schuld hat etwas stark Moralisches, Verantwortung scheint zielgerichteter, es scheint nicht so endgültig aufgeladen wie die Schuld, impliziert also eher die Möglichkeit zur Änderung.
O je, jetzt gerate ich ins Philosophieren,dazu ist es wahrlich zu spät....
Ach Mensch, ich kann Grete verstehen, aber ich bewundere Lieschen, wie sie es schafft und sich bemüht, die Freundin wieder zu beruhigen.
Tolle Erlebnisse von den beiden und richtig gute Denkanstöße.
Macht weiter so!
Lieben Gruß
Enya
Dankeschön Euch beiden!!!
AntwortenLöschenZu wissen, dass Euch das Lesen Freude macht, macht mir wiederum ne große Freude!
liebste Grüße
Brigitta
PS: ... und die Liese besteht darauf, dass ich Euch auch von ihr danke und erzähle, dass sie sich ebenfalls freut! ... :-)))))))))))
Hallo Enya,
AntwortenLöschenunsere beiden Kommentare haben sich gerade überschnitten ...
Ich bin immer wieder platt über die vielen differenzierten Gedanken, die du dir anlässlich der "behandelten" Themen machst ... und dir dann auch noch die Zeit nimmst, sie nieder zu schreiben und hier zu posten!
Das empfinde ich als ganz große Bereicherung für den Blog (die Blogs) ...
DANKE fürs regelmäßige Lesen UND diese Kommentare!!!
Eine große Freude!!!
liebsten Gruß
Brigitta