Lieschen hatte ein entspannteres Wochenende als die Grete
mit ihren schwer hörigen Verwandten. Sie weiß jetzt alles über die Sprache
menschlicher Körper. Naja. Jedenfalls wird sie die Arme nicht mehr
verschränken, wenn sie möchte, dass ihr Gegenüber sie als offenen Menschen
wahrnimmt oder sie ihm den Eindruck vermitteln möchte, sie höre ihm offenen
Herzens zu. Oder sie wird sie weiterhin verschränken, aber wahrnehmen, dass sie
es tut und dann wissen, dass sie eben nicht wirklich offen zuhört. Und falls
sie auf empfundenes Desinteresse angesprochen wird, wird sie wissen, dass der sich Beklagende Recht hat.
Mit den neu gewonnenen Kenntnissen wäre sie nun auch prima
in der Lage, ihre Gesprächspartner zu manipulieren. Wenn sie einfach stets die
Haltung des Gegenübers einnehmen würde, so als säße der vor einem Spiegel,
würde er sich beim Lieschen vermutlich sehr wohl fühlen, sie vielleicht gar für
eine Seelenverwandte halten und sich vielleicht stärker öffnen als er es täte,
wenn sie ihre Körperhaltungen einfach dem Zufall bzw. ihrer echten Verfassung überlassen
würde.
Aber natürlich wird die Liese das niemals ausnutzen. Oder
doch? Manche im Seminar haben gejubelt und sich als Fans dieser Methode
geoutet. Niemals mehr Widerstand, niemals Zank wie bei Gretes Verwandten und
immer gute Stimmung. Mit solch einfachen Handgriffen. Lieschen hat nicht
gejubelt. Jedenfalls nicht darüber. Sie ist unschlüssig, ob sie solche
Erkenntnisse für gut halten soll.
Aber gelernt hat sie viel und zu denken hat sie für die
nächsten Tage genug. Und nette Menschen hat sie kennengelernt. Auch auf der
Heimfahrt im Zug. Denn nicht nur die Grete hatte an diesem Wochenende mit
Menschen im Alter weit über die Siebzig zu tun. Auch die Liese. Sie hatte sich
einen der „Viererplätze“ in der Bahn organisiert und es dauerte nicht lange bis
ihr gegenüber ein Herr mit roten lebendigen Bäckchen im Wanderdress mit großem
Rucksack Platz nahm. Sie kamen schnell ins Gespräch und er erzählte ihr von einer
wunderschönen Wandertour, in der immer mehr Orte vorkamen, die Lieschens Wissen
nach nicht nah beieinander lagen. Also hat sie gefragt, wie weit die Strecke
denn war, die er mit seinen Wanderfreunden zurückgelegt hat. Und dieses
lebendige Kerlchen sagt: 18 km. Und morgen ginge es wieder los. Dann 22 km. „Man
muss seine Grenzen jeden Tag austesten! In meinem Alter erst Recht! Das ist
wichtig! Junge Frau!“ Wie alt er denn sei, wollte die Liese natürlich wissen.
Er wollte, dass sie schätzt. Das tat sie nicht. Also hat er ihr’s gesagt: 78
Jahre. „Die Kinder sind alt, die Enkelkinder sind groß und die Frau lebt
woanders. Auseinandergelebt. Macht aber nichts.“ „Macht aber nichts?“ „Nein.
Ich habe ja Zweisamkeit. Die Frau passt besser zu mir. Die lässt mir Freiheit.“
„Ist ja schade, so eine Scheidung im Alter.“ „Aber nein. Aber nein. Keine
Scheidung! Nur auseinandergelebt.“ Wie genau die Lebensverhältnisse des sehr
fitten älteren Herrn nun wirklich sind, konnte das Lieschen auch durch genauere
Fragen nicht ermitteln, denn die Detailfragen verstand der Herr nicht. Oder
wollte der Herr nicht verstehen. Er trug wie Gretes Tante ein Hörgerät und zog
sich im Bedarfsfall mit einem Fingerzeig aufs Gerät im Ohr zurück.
Lieschen hatte Spaß an diesem Mann. Ob sie morgen wohl mal
ein paar Meter mehr gehen wird als das übliche Zweikilometertagesründchen?
Schlecht wär‘s wohl nicht, denkt sie. Obwohl. Sie hat ja noch ein bisschen Zeit
bis Ende Siebzig. Vielleicht. Sie wird das gleich mal mit der Grete am Telefon
besprechen.
Hm...gerade überlege ich, wie das so ist mit dem Auseinanderleben. Das hört man ja so oft.
AntwortenLöschenEin Zusammenraufen, das kenne ich gut. Das ist etwas Aktives, das man bewusst initiiert, um mit einem anderen Menschen klarzukommen. Kompromisse, Zugeständnisse, ein ständiges Ausloten.
Auseinanderleben, geschieht das einfach so – unbewusst, nebenbei, ohne dass man es merkt? Weil man eben nicht aktiv und bewusst an verschiedenen Lebenssträngen gearbeitet, sondern es einfach laufen lassen hat?
„Macht aber nichts?“, sagt der Herr im Zug und Lieschen scheint auch ein wenig verwundert.
Er hat sich eben neuem zugewandt. So einfach ist das? Wirklich?
Zumindest ist er aktiv, der ältere Herr und gestaltet sein Leben.
Wenn Lieschen nun Gretes Bericht über deren Besuch bei Heidi und Günther hören wird, sieht sie , dass es eben auch im Alter noch ganz unterschiedliche Lebensentwürfe und Einstellungen gibt.
Was die Körpersprache angeht, nun, da hat Lieschen einiges gelernt. Mit dem Anwenden ist es, meine ich, so eine Sache. Ich denke, man kann sich nicht ständig kontrollieren. Das wäre jeder Beziehung am Ende vielleicht abträglich. Aber so ab und zu...ja, vielleicht. Kommt auf die Umstände an.
Wenn aber das gegenüber die gleichen Techniken anwendet, wüchse bestimmt eine Mauer...
Zumindest hatte Liese auch ein interessantes und abwechslungsreichen Wochenende, was mir sehr gefällt.
Liebe Grüße
Enya
Jaja, im Leben gibt es alles.
AntwortenLöschenDie einen akzeptieren das Auseinanderleben und stoppen damit vielleicht gruseligen unterschwelligen Zank. Die anderen raufen sich zusammen und kultivieren damit vielleicht Zank und Streit. Dritte leben irgendwelche Zwischenformen. Vielleicht auch der Herr aus der Bahn. Lieschen kann es ja, trotz Bemühung, nicht herausfinden, ist aber offensichtlich interessiert.
Und zu deiner Vermutung, was Lieschen sehen wird, wenn sie Gretes Bericht liest ...:
Lieschen kennt ja Gretes Bericht bereits.
Nur aus diesem Grunde gibt es überhaupt eine "Hörgerätealtersgeschichte" aus Lieschens Sicht, die ja offensichtlich nicht so gut in nur schwarz und weiß denken kann.
Unsere Vorgehensweise ist ja die: Perdita schreibt einen "Gretebericht", in dem sie in einer Geschichte, die die Grete erlebt, ein Thema vorgibt. Ich lese das und antworte auf das Thema, bzw. eines der Themen (meist innerhalb von einer Stunde) aus einer anderen Sicht mit einer Geschichte, die Lieschen (angeblich) erlebt hat.
... Ein Konzept, dass sich nicht so leicht vermitteln lässt. Im Ergebnis aber ein etwas runderes Bild bieten kann ...
erneut einen lieben Dank an dich
Brigitta
Es sind immer die Kleinigkeiten, die hier angesprochen werden und mich stimmt das wirklich zum Nachdenken an, ich weiß, dass wird in Kommentaren so oft geschrieben, wenn einem nichts mehr einfällt. Zugbegegnungen finde ich spannend, ich höre gern den anderen zu, vor allem die Handygesprächer völlig fremder Menschen sind spannend.
AntwortenLöschenAuseinanderleben - woran mag es liegen. Jeder geht seinen Weg und man trifft sich evtl. beim Abendbrot wieder. Manchmal braucht es im Leben solche Pausen, damit man Atem schöpfen kann und den Partner völlig anders wahrnimmt. Manchmal klappt es nicht... LG von Geli
Ja, liebe Geli, beidem stimme ich zu ... :-)))
AntwortenLöschenUnd die Vorliebe fürs Menschenbeobachten, -belauschen und mit ihnen sprechen ... in Zügen und an fast allen Orten liebe ich ebenso.
Wieder herzlichen Dank fürs Lesen und das Teilen deiner Gedanken dazu.
lieben Gruß Brigitta