Mittwoch, 25. September 2013

Lieschen und gefärbte Brillen

Lieschens Antwort auf Fräulein Grete Meiers Post Nr. 57 ---> guckst du hier

Heutzutage kennt sich die Grete mit den Reichen und Schönen, den Berühmten, den Unrühmlichen und den A-bis-Z-Promis viel besser aus als das Lieschen. Grete liest gerne über deren Leben, Glück, Unglück und alle die Kleinigkeiten, die sie an die Presse geben oder die sich, unterbezahlte freie Mitarbeiter der Yellowpress mangels echter Informationen täglich aus den Fingern saugen.

Die Grete liebt es, mit ihrer rosaroten Brille die Menschen zu betrachten, die sich, selbst verschuldet oder unverschuldet, im grellen Licht der Öffentlichkeit tummeln. „Gretes Promis“ leben in rosaroten Welten. 
Die Welt der Menschen, die das Lieschen betrachtet, ist anders gefärbt. Offensichtlich liegt das aber nicht so sehr an dem, was es da zu gucken gibt, sondern vielmehr an Lieschens Brille. Die rosarote hat sie schon vor langer Zeit verlegt und nicht mehr wieder gefunden.

Lieschen weiß, dass die Grete auch heute noch an große Lieben glaubt, bei Sissifilmen weint und Prettywoman für einen Lebensratgeber hält. Sie weiß, dass sich die Grete im Grunde wünscht, dass das Lieschen die Welt genauso sehen könnte wie sie sich ihr selbst zeigt. Rosarot und unbefleckt. Aber Lieschens Brille gleicht einem dieser Scanner, die auf Flughäfen nun doch nicht angeschafft wurden. Lieschens Brille führt ihren Blick immer hinter die Fassaden und zwingt sie zu einem weiten Rundumblick. Lieschen sucht nicht nach dem Grauen oder Andersfarbigen im eigenen Leben oder dem der anderen. Ihre Brille ist es, die ihr zeigt, was sie sieht.

Manchmal. Ganz selten, leiht sie sich Gretes Brille und sieht, was die sieht. Und dann freut sie sich kurz mit ihr gemeinsam über die neuentbrannte Liebe von Herrn Schweighöfer zu seiner Ex und die Tatsache, dass sie ein weiteres Kind gezeugt haben. Ganz kurz. Dann fällt ihr die rosarote Brille von der Nase, ihre eigene nimmt ihren angestammten Platz ein und schon vermutet die Liese, dass das, was Grete für ein Happyend hält, der Anfang von etwas ist, das vielleicht weder ein „End“ noch „happy“ ist.
„Jetzt fängt es doch erst an“ hört sich das Lieschen in solchen Momenten sagen und sieht Gretes Enttäuschung, obwohl die sie gerne verbergen möchte und am Liebsten „Ach ja, das ist ja soooo schön“ auch aus Lieschens Mund gehört hätte. Doch Lieschen kann das nicht. Und Grete hat keine Scannerbrille. Oder auch nur mal ganz kurz. Probeweise. Solange bis sie ihr von selbst von der Nase fällt und automatisch von der hübschen Rosaroten ersetzt wird.

Ganz früher hat das Lieschen die ausgelesenen „Romänchen“ ihrer Großmutter verschlungen. Da hatte sie es „für nen Groschen“ und ein Stündchen mit Verlieben, Krankenschwestern, Ärzten und Happyends zu tun. Kurze Zeit hielt sie das Gelesene für möglich. Auch weil die Oma ihr das, wider besseres Wissen, glauben machen wollte und es selbst auch irgendwie glaubte. Jedenfalls hat sie nach dem Tod von Lieschens Großvater täglich die Todesanzeigen anderer Herren studiert und wenn sie einen mit ordentlichen Titeln fand, gesagt: „siehste, den hätte ich auch haben können. Der hätte länger gelebt als der Opa und ich hätte heute ne ordentliche Pension.“

Als Kind war das Lieschen eine Leseratte. Außer den Romänchen hat sie alles gelesen, was gedruckt war und ihr in die Finger kam. Dank des Bücherschranks ihrer Eltern und der Existenz der Stadtbücherei war das viel. 

Das Buch, an das sie sich heute noch erinnert und das sie in Abständen und (zufällig) mehrmals gelesen hat, handelte von einem blinden Mädchen, das sich die Welt ohne ihre physischen Augen erschloss.
Lieschen hat das Mädchen beneidet. Dafür, dass sie vieles, was sie selbst sehen musste, nicht sehen konnte und somit auch nicht musste.

Lieschen mochte die Oma und Lieschen mag die Grete. Aber sie kann nicht so sein wie die beiden. Und sie sieht bei gleichem Bild nicht dasselbe wie die. Das weiß sie heute. Und versucht es nur noch selten. 





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3 Kommentare:

  1. Wie viel ernsthaftigkeit steckt in diesem Text. Ich bin oft wie Grete, glaube an viele Dinge und stürze dann ab, aber ich bin auch wie das Lieschen, die ihre rosarote Brille verlegt hat, meine hatte ich vor ein paar Monaten noch, inzwischen ist sie zerbrochen, habe das sogar gedrabbelt. Wieder einmal ein Beitrag, den ich gut mit in den begonnenen Tag nehmen werde. Ich freue mich wirklich täglich darauf, für mich ist es etwas Besonderes. Gruß Geli

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  2. Schon als ich eben Gretes Beitrag las, wusste ich, dass Lieschen keine rosarote Brille auf der Nase hat. So haben Menschen eben unterschiedliche Sichtweisen (sprich: Brillen), mit denen/ durch die sie die Welt betrachten.
    Häufig kommen auch beide Brillen zur Anwendung.
    Außerdem gibt es ja noch zahlreiche Zwischen-Farbtöne.
    Nur rosarot geht natürlich nicht. Dann wird man das Leben und die Realität völlig vernachlässigen und nur die eigenen Vorstellungen – distanzlos auf sich und sein Leben projizieren. Das wird zu herben Enttäuschungen führen, ja sogar zum Kranksein.
    Andererseits ist es vielleicht zuweilen durchaus berechtigt, Momente in rosa getaucht zu sehen, immer dann, wenn alles nur noch grau und düster erscheint. Dann ist es gut, den Blick etwas zu erhellen.
    (Meine Freundin sagte immer in solchen Momenten: Ich male mir den Regen bunt)

    Grundsätzlich finde ich, dass das eigene Denken Einfluss darauf hat, wie man die äußere Welt und sich selbst innerhalb dieser wahrnimmt.
    Den Umständen ist es egal, ob unsere Brille rosarot oder grau gefärbt ist, ob wir nur das Szenario vor dem Vorhang sehen oder auch mal dahinter blicken.
    Nur sollte man das innere Erleben und Wünschen nicht ständig der Realität entgegensetzen. Das macht letztlich handlungsunfähig.

    So finde ich es gut, dass sich Lieschen zuweilen die rosarote Brille von Grete aufsetzt und sich dann auch mal freut an dem, was sie sieht. Und dann Grete wieder zurückholt auf den Boden, ihr die Welt hinter dem Vorhang zeigt.
    Ist doch eine schöne Ergänzung.

    Wichtig ist für mich immer noch, dass man sich bewusst macht, was und wie man es sieht, also reflektiert. Seine Wahrnehmung schult und nicht immer alles glaubt, was einem schöngefärbt präsentiert wird.
    Dann sehe ich die rosarote Brille wie einen Traum, den man mal genießen kann, aber aus dem man auch wieder aufwachen muss.

    Nein, niemand muss so sein und alles so sehen, wie ein anderer. Aber ab und zu mal die Sichtweise eines anderen einnehmen, kann Verstehen nur bessern.

    Und Grete und Lieschen verstehen sich ja – irgendwie, weil sie eben nicht den Anspruch erheben, der andere müsse genauso sein wie sie selbst.

    Es wird sicher heute ein sehr netter und auch inspirativer Nachmittag für die beiden. Zumindest wünsche ich ihnen das.

    Wieder mal ein guter, nachdenklich stimmender Text.
    Lieben Gruß
    Enya

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  3. Liebe Brigitta,
    meine rosarote Brille habe ich auch lange schon verlegt. Aber das machen auch wohl die Erfahrungen eines langen Lebens.
    Dein Text ist stimmig, regt zum Nachdenken an und zeigt: Es gibt immer zwei Seiten einer Sache. Aber ihr beiden versteht euch - und die Gegensätze sind es, die sich anziehen. Und die beiden Blogs so interessant machen.
    Einen schönen Mittwoch wünscht dir
    Irmi

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Herzlichen Dank für Euer Interesse und die den Blog so sehr bereichernden Kommentare!
Beides ist sowohl der Liese als auch mir eine große Freude! :-)))