Jetzt ist das Lieschen ganz kleinlaut und weiß nicht so
recht, was sie auf Gretes Tagesbericht antworten soll. Die Aktion, die die
Grete so adhoc auf die Beine gestellt
hat, klingt so wunderbar. Herr Heinevetter hat ein Problem und die Grete löst
es mithilfe der Hausgemeinschaft für ihn.
Lieschen vermutet, dass die Grete
dafür viel Zustimmung bekommt. „So muss es sein in der Nachbarschaft“ werden
die meisten wohl sagen. „Das ist Freundschaft“ werden sie vielleicht noch
hinzufügen. Und das Lieschen würde stumm daneben stehen. Vielleicht. Wenn
überhaupt.
Das Lieschen wäre vielleicht gar nicht zu der Versammlung in
Gretes Küche gegangen. Sie hätte die Grete möglicherweise gefragt, was denn der
Heinevetter selbst möchte. Dann hätte sie wohl geantwortet, dass er seinen
Führerschein abgeben will. Und dann hätte unser Lieschen vermutlich angesichts
seines Alters und seines selbst ausgesprochenen Wunsches einfach die Information als Information
genommen. Vielleicht hätte sie noch gefragt, wie er sich denn seinen Wochenendeinkauf
nun vorstelle und ob er dabei Hilfe bräuchte. Aber auch das hätte sie ihn dann
am liebsten selbst gefragt. Seine Entscheidung hätte sie nicht infrage
gestellt.
Die Liese weiß, dass ein solches Verhalten ungewöhnlich ist und nicht
selten als nichthilfswillig oder gar als herzlos bewertet wird. Aber sie findet
Akzeptanz enorm wichtig. Wenn also der Herr Heinevetter aus Angst davor ein
versehentlicher Mörder zu werden lieber nicht mehr Auto fahren will, wäre sie
die Letzte, die ihn an diesem Verzicht hindern wollte. Aber vielleicht haben ja Gretes Nachbarn Recht
und ein Augenarzt und Optiker könnte eine Grundlage für eine neue, vielleicht völlig andere, Entscheidung von Herrn Heinevetter legen.
Lieschen schämt sich angesichts ihrer Gedanken zur Situation
und doch kann sie ihre Zweifel nicht so einfach über Bord werfen. Grete
schreibt, dass der Heinevetter, als er vor vollendete Tatsachen gestellt wurde,
als ihm ein Plan für sein Leben von den Nachbarn vorgelegt wurde, überrascht
schweigt und dann die Hausgemeinschaft lobt.
Was wäre wohl gewesen, wenn er gesagt hätte „Nenene, danke,
aber mir war das Ernst. Ich will den Führerschein abgeben. Für Hilfe bei meinem
Wocheneinkauf wäre ich aber wohl dankbar“?
Könnte doch sein, dass es ihm Ernst war, denkt die Liese.
Oder ist es tatsächlich so, dass Menschen ihre Probleme, die sie selbst nicht
klar untersuchen und auch nicht klar benennen, von anderen gelöst haben wollen,
ohne selbst auch nur einen Schritt zu tun? Je länger Lieschen sich jetzt mit
diesem Problem, das ja ihr ureigenes ist, auseinandersetzt, desto deutlicher vermutet
sie: Ja. Das wollen Viele. Erwachsene Menschen möchten, dass andere ihre
Probleme lösen, ohne, dass sie genau sagen müssen, was sie wollen. So wie
Babys. Wenn die Hunger haben oder sie etwas zwickt, dann ist es ihr gutes
Recht, einfach rasch zu brüllen, falls die Mutter nicht von selbst merkt, dass
etwas nicht stimmt oder das Kind etwas braucht. Die Mutter eines Babys oder Kleinkindes ist verpflichtet
durch „hellsichtige Fähigkeiten“ oder Ausprobieren herauszufinden, was das Kind
braucht und es ihm zu geben. Eine Mutter ist die Problemlöserin des Babys oder
Kleinkindes. Natürlich!
Aber der Heinevetter ist doch kein Baby mehr. Und die Grete
ist doch nicht seine Mutter. Lieschen meint, dass man von einem erwachsenen
Menschen, der sprachlich keine Behinderungen hat, erwarten könne, dass er sich
artikuliert. Zu Hellsichtigkeiten gegenüber Erwachsenen ist das Lieschen nicht
bereit. Und sie glaubt auch nicht, dass man einem erwachsenen Menschen einen
Gefallen damit tut, ihn wie ein Baby oder Kleinkind zu behandeln.
Lieschen bevormundet halt nicht gerne. Weder Kinder noch
Erwachsene. Im ersten Moment respektiert sie, was ihr gesagt oder gezeigt wird.
Mag sein, dass sie einen Vorschlag macht
oder eine Frage stellt. Mehr aber erst einmal nicht. So ist sie. Sie würde die
Antwort abwarten und nach Möglichkeit respektieren.
Kann ja sein, dass der Herr Heinevetter auf die Frage „Was
meinen sie, soll ich mal die Hausgemeinschaft zusammen trommeln, sodass wir
beraten können, ob wir Ihnen helfen können?“ mit „Auja super“ geantwortet hätte. Vielleicht aber auch nicht.
Langer Rede, kurzer Sinn. Das Lieschen ist in diesem Fall
sehr froh, dass sie nicht zu dieser „eingeschworenen Hausgemeinschaft“ gehört,
die so wunderbar funktioniert und in der sie mit ihrer Reserviertheit und ihrer
Auffassung von Respekt möglicherweise für unnötige Unruhe sorgen würde.
Ist halt alles gut eingerichtet in der Welt, meint das
Lieschen. Die Menschen finden sich so wie sie sich brauchen. Prima.
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Nun ich denke, Herr Heinevetter war einfach von dem Unfall betroffen. Die Ähnlichkeiten haben ihn animiert die Grete zu informieren, aber ich denke auch, er wollte seinen Führerschein auch gar nicht abgeben. Er brauchte eine Bestätigung und auch die Grete, die ihm alles aus der Hand nimmt. Es muss solche Menschen wie die Grete geben, aber auch Menschen wie dat Lieschen, die die Situation völlig anders sehen und das was Herr Heinevetter sagt, mit einem Nicken akzeptiert hätten.
AntwortenLöschenBeide Seiten gefallen mir gut. Ich wäre mehr das Gretchen LG Geli
Ja meine Liebe, ich denke auch das herr Heinevetter bestürtz war durch den Unfall. Vielleicht braucht er nur eine kleine Aufmunterung und Hilfestellung. Mir gefällt die Hausgemeinschaft und die Hilfbereitschaft der Menschen. Deine Seite liest sich interessant und ist auch nicht verkehrt, doch mir gefällt die andere besser.
AntwortenLöschenLiebe Abendgrüße
Angelika
Liebe Brigitta,
AntwortenLöschendeine Sicht der Dinge ist überdenkenswert. Auf der einen Seite gefällt mir der Zusammenhalt der Hausgemeinschaft - aber du hast Recht. Herr Heinevetter wurde überrumpelt. Was wollte er wirklich? War es seine feste Überzeugung oder nur so dahingesagt? Aber ich verstehe Grete auch. Sie wollte Herrn Heinevetter helfen. Er liegt ihr halt am Herzen. Er wollte nicht allein entscheiden.
Einen schönen Abend wünscht Dir
Irmi
Eine ganz andere Sichtweise auf das Thema - mit einem Schlusswort, über das es sich wirklcih nachzudenken lohnt...
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Christiane